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Aktuelle Studien : Wie sehr hängen Bildungsverläufe von der sozialen Herkunft ab?

Bildungsverläufe hängen noch immer stark vom familiären Hintergrund ab. Je höher der Abschluss und das Einkommen der Eltern, desto besser sind die Bildungschancen für ihre Kinder. Diese Erkenntnis zur Bildungsbiografie ist nicht neu, aber aktuelle Studien zeigen, wie stark die Zusammenhänge sind. Doch schaut man genauer auf die Bildungswege der vergangenen 20 Jahre, ist das System an einigen Stellen auch offener geworden, sagt Bildungsforscher Kai Maaz im Interview.

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Bildungsschere geht schon in der Grundschule weit auseinander

Die neue IGLU-Studie zeigt es wieder sehr deutlich: In der Bildungsbiografie und vor allem bei den Übergängen in der Schullaufbahn spielt das Elternhaus eine besondere Rolle. Vor allem beim Wechsel von der Grundschule auf die weiterführende Schule spielen der Bildungshintergrund und das Haushaltseinkommen der Eltern eine entscheidende Rolle. Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland benötigen für eine Gymnasialempfehlung ihrer Lehrerkräfte eine deutlich höhere Lesekompetenz, wenn ihre Eltern einer niedrigeren Berufsklasse angehören. Lehrkräfte prognostizieren für Kinder aus Akademiker-Haushalten mindestens doppelt so häufig den Wechsel aufs Gymnasium wie bei Kindern aus Arbeiterfamilien.

Der Chancenmonitor 2023 des ifo Instituts, der sich auf den Mikrozensus 2019 bezieht, hat außerdem gezeigt, dass nur 28,2 Prozent der Kinder nach der Grundschule aufs Gymnasium wechseln, wenn kein Elternteil das Abitur hat. Haben beide Elternteile die Hochschulreife erlangt, sind es hingegen 75,3 Prozent. Groß ist die Spanne laut Chancenmonitor auch in Bezug auf das Haushaltseinkommen der Eltern: Ist es niedrig (weniger als 2.600 Euro im Monat), besuchen 26,8 Prozent das Gymnasium. Liegt es bei über 5.500 Euro im Monat, sind es 60,8 Prozent der Kinder. Dabei spielt außerdem eine Rolle, ob beide Elternteile berufstätig sind. In diesem Fall liegt die Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs bei 48 Prozent; wenn ein Elternteil arbeitet, bei 36,3 Prozent; und wenn kein Elternteil berufstätig ist, nur bei 18,2 Prozent.

Einfluss auf die Bildungsbiografie hat auch ein Migrationshintergrund, allerdings einen deutlich geringeren. Das zeigt der Chancenmonitor, dem die Bildungsverläufe von mehr als 50.000 Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 18 Jahren zugrunde liegen. Haben beide Eltern einen Migrationshintergrund, liegt der Anteil der Kinder, die ein Gymnasium besuchen, bei 33,1 Prozent. Hat kein Elternteil einen Migrationshintergrund, kommen 44,3 Prozent aufs Gymnasium.

Einfluss auf die Bildungsbiografie hat nicht nur, wie viel Eltern verdienen, sondern auch, ob beide arbeiten

Oft kommen in der Bildungsbiografie mehrere Faktoren zusammen, und dann geht die Schere noch weiter auseinander. Kinder von Alleinerziehenden ohne Abitur, aber mit Migrationshintergrund, die im untersten Einkommensviertel liegen, haben nur eine Wahrscheinlichkeit von 21,5 Prozent, aufs Gymnasium zu wechseln. Bei einem Kind aus einer Familie, in der beide Elternteile Abitur und keinen Migrationshintergrund haben sowie zum höchsten Einkommensviertel gehören, ist es dagegen viermal wahrscheinlicher (80,3 Prozent), dass es ein Gymnasium besucht.

Die Bildungsschere zeigt sich aber nicht erst beim Übergang auf die weiterführende Schule, sondern schon früher in der Bildungsbiografie, nämlich beim Schuleintritt. Nach den Ergebnissen des aktuellen IQB-Bildungstrends ist sie in den vergangenen Jahren sogar noch weiter aufgegangen. So lassen sich größere Unterschiede zwischen den Leistungen von Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten und aus privilegierteren Familien bereits im Grundschulbereich beobachten.

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Kinder aus Akademikerfamilien auch beim Hochschulzugang klar im Vorteil

Die Ungleichheit der Bildungsverläufe setzt sich auch nach der Schulzeit fort. Nach dem Hochschul-Bildungs-Report nehmen 79 Prozent der Grundschulkinder aus Elternhäusern, in denen mindestens ein Elternteil einen Hochschulabschluss hat, später ein Studium auf. Bei Grundschulkindern aus Nicht-Akademiker-Elternhäusern sind es nur 27 Prozent. Tatsächlich liegt dann der Anteil der Kinder aus Nicht-Akademiker-Haushalten an allen Studierenden bei 47 Prozent. An der Schule machen sie aber 72 Prozent aus. Und einen Hochschulabschluss erwerben dann 43 Prozent der Akademiker-Kinder, aber nur 11 Prozent der Nicht-Akademiker-Kinder.

Nach der 21. Sozialerhebung – einer Studierendenbefragung, die alle vier Jahre im Auftrag des Bundesbildungsministeriums durchgeführt wird – zeigt sich auch, dass der Anteil der Studierenden, deren Eltern Abitur haben, zwischen 1991 und 2016 deutlich gestiegen ist. Waren es 1991 noch 43 Prozent, liegt der Anteil 25 Jahre später bei 66 Prozent. Das ist allerdings auch der Tatsache geschuldet, dass heute in der Elterngeneration mehr Menschen die Hochschulreife erworben haben als noch Anfang der 1990er-Jahre.

Migrationshintergrund hat weniger großen Einfluss

Interessant wird es aber, wenn man auch den Migrationshintergrund als Bezugsgröße für die Bildungsverläufe hinzunimmt. Insgesamt liegt der Anteil der Studierenden mit Migrationshintergrund bei 20 Prozent. Schaut man dabei aber auch auf den höchsten Bildungsabschluss der Eltern, zeigt sich, dass der Migrationshintergrund keinen großen Unterschied macht. Der Anteil der Studierenden aus Familien, bei denen mindestens ein Elternteil einen Hochschulabschluss hat (hoch), liegt bei 53 Prozent ohne Migrationshintergrund und bei 49 Prozent mit Migrationshintergrund.

Größer sind die Unterschiede in der Bildungsbiografie bei Kindern aus Elternhäusern, in denen beide Eltern einen nicht-akademischen beruflichen Abschluss haben (mittel) oder nur ein Elternteil einen beruflichen Abschluss hat (niedrig). Unter den Studierenden ohne Migrationshintergrund ist der Anteil der Eltern mit mittlerem Bildungsniveau deutlich größer, bei Studierenden mit Migrationshintergrund der Anteil derjenigen, deren Eltern ein niedriges Bildungsniveau haben. Das spricht zumindest für eine gewisse Offenheit im System.

Grafik Bildungsverläufe 3

Sozialer Hintergrund bestimmt auch über Ausbildungserfolg

Der Nationale Bildungsbericht 2022 hat untersucht, inwieweit Migrationshintergrund, Bildungshintergrund der Eltern und sozioökonomischer Status bei der Ausbildung eine Rolle spielen. Die Ergebnisse sind eindeutig: Der Ausbildungserfolg – also ob Auszubildende einen Abschluss erreichen oder nicht – hängt maßgeblich von den genannten Faktoren ab. Besonders entscheidend im Bildungsverlauf ist offenbar der Bildungshintergrund der Eltern: Ist er hoch, schließen 76 Prozent erfolgreich die Ausbildung ab. Ist er niedrig, liegt die Quote bei 55 Prozent.

Bezogen auf die Ausbildung spielt auch der Migrationshintergrund für einen erfolgreichen Bildungsverlauf offenbar eine größere Rolle: 73 Prozent der Auszubildenden ohne Migrationshintergrund machen ihren Ausbildungsabschluss, bei den Auszubildenden mit Migrationshintergrund sind es 59 Prozent. Beim sozioökonomischen Status der Eltern geht die Schere nicht ganz so weit auseinander: 73 Prozent der Auszubildenden, deren Eltern einen hohen sozioökonomischen Status haben, absolvieren die Ausbildung erfolgreich. Bei den Auszubildenden, die Eltern mit niedrigem sozioökonomischen Status haben, sind es 63 Prozent.

Was sagt Experte Kai Maaz zu Bildungsverläufen?

Wie haben sich Bildungsverläufe über die vergangenen 10 bis 20 Jahre entwickelt, und wo sind Stellschrauben, um mehr Bildungsgerechtigkeit zu erreichen? Das wollte das Schulportal von Bildungsforscher Kai Maaz wissen.

Deutsches Schulportal: Wie haben sich Bildungsverläufe in den vergangenen 10 bis 20 Jahren verändert?
Kai Maaz: Das System ist durch eine große Stabilität gekennzeichnet. Aber es gibt durchaus Bewegungen, die man schon als selbstverständlich ansieht und daher gar nicht so wahrnimmt. Wir haben beispielsweise in den vergangenen 10, 20 Jahren den frühen Bildungsbereich für Kinder unter sechs Jahren ausgebaut. Besonders bei den Kindern im vorletzten und letzten Jahr vor der Einschulung ist die Bildungsbeteiligung in der Kita recht groß. Bei den unter Dreijährigen hängt es allerdings stark von der Bildungsherkunft der Eltern ab, ob sie eine frühkindliche Bildungseinrichtung besuchen oder nicht.

Und noch eine zweite wichtige Entwicklung wird oft übersehen: Die Bildungswege sind in den vergangenen beiden Dekaden deutlich offener geworden. Das heißt: Eine Entscheidung nach der Grundschule determiniert nicht die Bildungslaufbahn und den Bildungsabschluss. Hier gibt es mehr Mobilität. Schaut man sich die Verteilung der Kinder nach ihrem sozioökonomischen Status in der 5. Klasse und dann sechs Jahre später an, lässt sich sogar eher eine Aufwärtsmobilität beobachten: Während in der 5. Klasse 27 Prozent der Kinder aus einem Elternhaus mit sozialökonomisch niedrigem Status das Gymnasium besuchen, sind es sechs Jahre später 31 Prozent.

Kai Maaz
©DIPF

Wir sehen trotz aller Bemühungen nach wie vor an jeder Gelenkstelle im Bildungsverlauf eine starke Koppelung mit der sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler sowie den Bildungsvorstellungen der Eltern.

Woran liegt das?
Die Bindekraft der besuchten Schulform und dem dann letztlich erworbenen Schulabschluss ist nicht mehr so stark. Lange Zeit gab es die klassische Dreigliedrigkeit mit jeweils eigenem Schulabschluss. Das ist flexibler geworden. Und Schülerinnen und Schüler können das Abitur auch nicht mehr nur auf dem Gymnasium machen, sondern, abhängig vom Bundesland, an verschiedenen Schularten. Auch nach der Schulzeit ist es möglich, im beruflichen Bildungssystem Schulabschlüsse nachzuholen.

Diese Offenheit ist wichtig, aber wir müssen aufpassen, dass diese Offenheit mit entsprechenden Qualitätsstandards gekoppelt ist. Um Bildungsabschlüsse nicht zu entwerten, müssen diese Standards für einen Bildungsabschluss an allen Schularten eingehalten werden.

Hat die Offenheit auch dazu geführt, dass der Einfluss der Herkunft in der Bildungsbiografie eine geringere Rolle spielt?
Wir sehen trotz aller Bemühungen nach wie vor an jeder Gelenkstelle im Bildungsverlauf eine starke Koppelung mit der sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler sowie den Bildungsvorstellungen der Eltern. Eltern mit sozioökonomisch privilegierterem Status, deren Kinder keine Gymnasialempfehlung haben, versuchen viel eher ihre Kinder trotzdem aufs Gymnasium zu bekommen. Und genauso ist es beim Übergang von der Schule in die Hochschule: Von 100 Jugendlichen, deren Eltern einen Hochschulabschluss haben, studieren 79. Von 100 Kindern aus Nicht-Akademiker-Familien besuchen nur 24 eine Hochschule. Das heißt: Von dieser Offenheit profitieren nicht alle Kinder in gleicher Weise.

An welcher Stelle muss man ansetzen, um den Bildungsverlauf unabhängiger von der sozialen Herkunft zu machen?
Eine wichtige Stellschraube liegt weit vor der Schulzeit. Bestimmte Vorläuferkompetenzen variieren schon da sehr stark in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft. Eine Ursache dafür ist, dass es große Unterschiede bei der Teilnahme an frühen Bildungsangeboten sowohl beim Besuch der Kita als auch bei anderen Bildungsangeboten wie musikalischer Früherziehung gibt. So starten die Kinder mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen in die Schule. Und oft geht die Schere der Leistungsdifferenzen dann noch weiter auseinander. Denn wenn die eher kompetenzschwachen Kinder nicht in die Lage versetzt werden, über basale Fähigkeiten zu verfügen, haben sie auch in allen anderen fachlichen Domänen Probleme. Der Anteil der Kinder, die wir im Grundschulbereich in Lesen, Schreiben und Mathematik als leistungsschwach bezeichnen, liegt bei etwa 20 bis 25 Prozent. Diesen Anteil werden wir nur reduzieren können, wenn wir systematisch den vorschulischen Bereich ins Bildungssystem integrieren.

Wie kann das gehen?
Wir brauchen zum Beispiel verbindliche Diagnosen von Sprachständen im vorschulischen Bereich und müssen, darauf aufbauend, eine integrative und additive Sprachförderung umsetzen. Das ist bislang in Hamburg der Fall, hier werden die Sprachstände von fast allen Kindern im Alter von viereinhalb erfasst. Wichtig ist, dass die sich anschließende Förderung keine optionale Entscheidung der Eltern ist, sondern dass sie verbindlich ist. Nur so kann es gelingen, dass sich die Unterschiede in der Bildungsbiografie nicht auswachsen und größer werden.

Woran liegt es, dass die Bildungsschere heute schon so früh auseinandergeht?
Meines Erachtens fehlen uns Daten, um das in eine Trendanalyse zu gießen. Ist die Differenz zwischen den Herkunftsgruppen wirklich größer geworden? Wie hängen Kompetenzen und soziale Herkunft im frühkindlichen Bereich zusammen? Um diese Fragen zu beantworten, brauchen wir ein anderes Bildungsmonitoring im frühkindlichen Bereich, das die Kompetenzaspekte stärker berücksichtigt und mit dem Monitoring in der Schule verbindet. Und wir brauchen die Messungen auch, um zu sehen, wo Handlungsbedarfe sind und welche Maßnahmen ergriffen werden müssen.

Geht die Bildungsschere in Ländern mit einem Bildungssystem, das ein längeres gemeinsames Lernen vorsieht, weniger auseinander?
Es gibt kein Bildungssystem, das wirklich frei ist von der Verzerrung durch die soziale Herkunft. Aber andere Länder gehen besser damit um. Das längere gemeinsame Lernen spielt dabei eine Rolle, aber ich halte es für unrealistisch, ein längeres gemeinsames Lernen hier schnell umzusetzen. Wichtiger finde ich, darüber zu diskutieren, wie guter Unterricht aussehen kann, welche zusätzlichen Qualifikationen Lehrpersonen brauchen und an welchen Stellen externe Expertise in den schulischen Kontext geholt werden sollte, um Kindern mit spezifischen Förderbedarfen Angebote zu machen.

Und noch ein Punkt: Wenn wir Maßnahmen ergreifen und neue Programme entwickeln, müssen sie im System konzeptionell verankert sein, damit nicht an unterschiedlichen Lernorten mit unterschiedlichen Lernstrategien gearbeitet wird. Sonst verlieren Schulleitung und Lehrkräfte den Überblick, und Kindern fehlt die Kontinuität. Wir wissen inzwischen gut, wie Förderung erfolgreich funktionieren kann, und wir haben auch nicht zu wenige Angebote für leistungsschwächere Kinder. Aber wir haben ein großes Defizit darin, diese Angebote in die Fläche zu bekommen und die Angebotsstrukturen zu verzahnen. Wir brauchen keine neuen Programme zur Leseförderung, sondern wir müssen die vorhandenen Programme besser in den Unterricht implementieren.

Zur Person

  • Kai Maaz ist Geschäftsführender Direktor des DIPF I Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation und Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Bildungssysteme und Gesellschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
  • Seit 2014 ist Kai Maaz Sprecher der Autorengruppe des Nationalen Bildungsberichts. Hier sind die wichtigsten Fakten zum aktuellen Nationalen Bildungsbericht 2022.
  • Die Schwerpunkte seiner Arbeit und Forschung liegen in der Analyse sozialer Ungleichheit im Bildungssystem, in der Evaluation von Schulstrukturen und Bildungsprogrammen sowie im Bildungsmonitoring.